Mit Poulantzas die G8 verstehen. Das Gipfel- treffen der Industriestaaten als staatstheoretisches Problem

Die Kämpfe um und gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm sind vorbei. Während die Proteste ihre Erfolge gezeitigt haben, bleibt die Frage, gegen was sie sich eigentlich gerichtet haben. Öffentlich wahrgenommen wurden vor allem zwei Momente der Kritik: Das Treffen sei auf Grund der kleinen Anzahl von teilnehmenden Staaten illegitim, und die neoliberale und kriegstreiberische Politik der G8-Staaten sei abzulehnen. Welche konkrete Funktion der G8-Gipfel jedoch abseits einer umfassenden Gleichsetzung mit der neoliberalen Globalisierung hat, darüber herrscht Uneinigkeit. Im Folgenden wollen wir mit Nicos Poulantzas’ Staatstheorie die Politik der G8 zu verstehen versuchen.

Poulantzas’ Staatsverständnis kommt in seiner Umschreibung von Staatlichkeit als einer “materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnissen” zum Ausdruck. Unter Materialität versteht Poulantzas die institutionellen Verfahrensregeln des staatlichen Terrains wie Bürokratie, Recht, staatliche Apparate, nationalistische Narrative, die mit der staatlichen Monopolisierung von legitimer Gewalt einhergehen und sozialen Kräften in ihrem politischen Handeln als vorstrukturierende Momente entgegentreten. Mit Verdichtung bezeichnet Poulantzas zum einen den Umstand, dass diese Materialität nicht alle politischen Kräfte gleichermaßen behandelt, sondern je nach inhaltlichen Forderungen und Aktionsformen strukturell selektiert. Zum anderen hält Poulantzas an der These fest, dass sich gesellschaftliche Kämpfe in die strategisch ausgerichtete, institutionelle Materialität des Staates einschreiben, d.h. bürokratische Verfahren, rechtliche Normen, aber auch nationalistische Narrative historisch erst durch die Verdichtung von Kämpfen zu dem wurden sind, was sie heute sind.

Ein zentraler Punkt bei Poulantzas ist zudem, dass er bereits Anfang der 1970er Jahre die Veränderung von Staatlichkeit im Kontext der Internationalisierung des Kapitals thematisierte. Die Staaten würden nicht an Bedeutung verlieren, sondern sich darauf konzentrieren, günstige Rahmenbedingungen für die internationalisierten Kapitalfraktionen zu schaffen. Ihm zufolge “delegieren” westliche Nationalstaaten lediglich in sehr beschränktem Maße Funktionen an überstaatliche Ebenen, in den meisten Fällen, um die Internationalisierungsbestrebungen einheimischer Kapitalfraktionen voranzutreiben.

Die leeren Versprechen der G8 haben System

Wie können nun die G8 mit Poulantzas’ These von Staat als materieller Verdichtung von Kräfteverhältnissen verstanden werden, und wie sieht die Materialität der G8 überhaupt aus? Hierzu ist es sinnvoll, mit Bob Jessop zwischen der Materialität der G8 im Hinblick auf die Repräsentationsformen, also den Zugang zu staatlichen Entscheidungsverfahren, und der Materialität im Hinblick auf die Interventionsformen staatlicher Apparate zu unterscheiden. Die Interventionen staatlicher Apparate in gesellschaftliche Verhältnisse wie Lohnarbeitsverhältnisse, privatrechtlich geschützte Bereiche wie Familien oder die Sphäre der politischen Öffentlichkeit können dabei Formen wie Geld (z.B. Steuern), Recht (z.B. Arbeits- und Eigentumsrechte), direkte Gewalt oder symbolische Politik annehmen.

Im Anschluss daran gehen wir davon aus, dass die G8-Gipfel eine eigene Materialität aufweisen, die jedoch in der aktuellen Konjunktur hinsichtlich ihrer Interventions- und Repräsentationsformen unterschiedlich ausgebildet ist. So sind die Repräsentationsformen der Gipfel massiv von den Gastgeberländern bestimmt, da diese die Agenda festlegen und die G8 selber nur über eine schwach ausgebildete Bürokratie verfügen. D.h. welche Themen überhaupt behandelt und welche Protestformen akzeptiert werden, hängt maßgeblich vom Gastgeberland ab. Erinnert sei dabei an die G8-Schuldeninitiative von Gleneagles (2005) auf Initiative der krisengeschüttelten Blair-Regierung oder an die aktuelle Klimadebatte im Rahmen der Klimaverhandlungen innerhalb der EU, welche von der deutschen Ratspräsidentschaft auf die G8-Agenda gesetzt wurde.

Auch die Reaktionen auf Protestformen unterscheiden sich in den einzelnen Gastgeberländern. Während der Bewegung in Genua nahezu militärisch begegnet wurde und in St. Petersburg kaum Proteste zugelassen wurden, verzichtete die deutsche Polizei in Heiligendamm neben den obligatorischen Provokationen im Großen und Ganzen darauf, die DemonstrantInnen flächendeckend anzugreifen. Gleichzeitig wurden in den Protestwochen alle Praktiken des sich in Deutschland etablierenden präventiven Sicherheitsstaats angewendet: Vorbeugegewahrsam, Überwachung, Aussetzung der Unschuldvermutung und weiterer rechtsstaatlicher Prinzipien.

Im Gegensatz zu den vielfältigen Repräsentationsformen der G8-Gipfel verfügen die G8 nur über beschränkte Interventionsformen – im Kern ist dies symbolische Politik. Subventionszusagen oder direkte Gewaltanwendungen werden nicht von ihr durchgesetzt, ihre Verdichtungsform ist damit auf Grund der informellen und an Symbolpolitik orientierten Form der G8 eine andere als in formellen Staatsapparaten.

Ulrich Brand und Christoph Görg haben bei der Untersuchung von Umweltkonflikten internationale Institutionen wie die WTO als “Verdichtung zweiter Ordnung” bezeichnet. Die spezifischen Kräftekonstellationen, die sich in den Nationalstaaten verdichten, artikulieren sich ihnen zufolge in den internationalen Institutionen als konkurrierende Interessen von Nationalstaaten. Dort muss dann eine auf gemeinsame Probleme hin ausgerichtete Politik formuliert werden. Wenn jedoch mit materieller Verdichtung eine verregelte Institutionalisierung von Kräfteverhältnissen zur Stabilisierung politischer Prozesse verstanden werden kann, dann sind die G8 keine Verdichtung zweiter Ordnung. Dafür sind die getroffenen Absprachen zu wenig verbindlich. Dass sie leere Versprechen sind und bleiben, liegt also in der Sache selbst.

Als kontinuierlich behandeltes Thema stechen lediglich finanzpolitische Fragen heraus: Wechselkurse, Entschuldung, Strukturanpassung, Geldwertstabilität. Entsprechend ist die Bürokratie der G8 auf diesem Feld am stärksten ausgeprägt. Dabei werden in der Struktur der G8 nicht nur die Bedingungen der Akkumulation der global orientierten Kapitalfraktionen verhandelt, sondern auch die Bedingungen der Akkumulation überhaupt. Eine stabile monetäre Sphäre ist konstitutiv für die Akkumulation – ob vornehmlich nationalstaatlich organisiert oder global orientiert. Es scheint daher angemessen, die G8 – nicht zuletzt durch ihre dominante Stellung in den internationalen finanzpolitischen Institutionen wie IWF und Weltbank – als informelles, internationales finanzpolitischen Relais mit flexiblen thematischen Erweiterungsmöglichkeiten zu verstehen, das in allen Feldern eine maximal koordinierende Funktion aufweist.

Die G8-Gipfel organisieren globale Hegemonie

Auf internationaler Ebene haben die G8 eine Filterfunktion im Hinblick auf die Politik in den anderen internationalen Staatsapparaten, die tatsächlich als eine materielle Verdichtung zweiter Ordnung bezeichnet werden können (WTO, IWF, OECD etc.). Beim aktuellen Gipfel zeigt das Abschlussdokument recht deutlich, wie diese Funktion des Gipfels greift: Zentrale und für dominante Kapitalfraktionen wichtige Anliegen wie Investitionssicherheit werden in ihrer strategischen Ausrichtung definiert und in wichtige und mit Sanktionsmacht ausgestattete Institutionen verschoben (WTO); “soft issues” wie Umwelt und Armut, die dem Gipfel eine gewisse Legitimation verschaffen sollten, werden in schwache Institutionen wie UNCTAD und ILO verschoben.

Diese Feststellungen sind jedoch nicht mehr als eine Charakterisierung dessen, was die G8 machen, d.h. eine funktionale Charakterisierung. Was aber sind die G8? Eine Metapher der Gegenmobilisierungen beschreibt die G8 als “Knoten im Netzwerk der Hegemonie”. Diese Funktion ist relativ eindeutig: Die G8-Gipfel organisieren die globale Hegemonie der westlichen Industrieländer und sind zugleich ein Forum, in der das kapitalistische Gesamtinteresse auf globaler Ebene austariert werden soll. Dieses kann nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern ist vielmehr Resultat politischer Prozesse und Kompromisse, da es weder gemeinsame Interessen von internationalisierten Einzelkapitalien noch von Nationalstaaten gibt – vielmehr stehen sie wie bei Fragen des Zugangs zu Energieressourcen in Konkurrenz zueinander. In diesem Sinne stellen die G8 einen transnationalen Hegemonial-Apparat dar, der Teile des herrschenden Blocks organisiert und Kompromisse zwischen den herrschenden Kräften aushandelt.

Zum anderen sorgt dieser Apparat aber auch für die Zustimmung zu bestimmten Herrschaftsverhältnissen, auch zwischen den G8 und Nicht-G8-Staaten. Dabei ist die zunehmende Einbeziehung so genannter Schwellenländer auffällig – so gab es vor dem Gipfel Sondertreffen mit China, Brasilien, Südafrika, Indien und Mexiko. Das Verhältnis der G8 zu diesen Ländern ist dabei von drei zentralen Politiklinien geprägt: zum einen der Forderung nach der Öffnung der Binnenmärkte für das Kapital der G8-Staaten, wobei letzteren eine “corporate responsability” für ein sozial verträgliches Investitionsklima auferlegt wird; zweitens fordern die G8-Staaten die Anerkennung sozialer Mindeststandard; drittens werden in puncto globaler Umweltprobleme zynischerweise die Schwellenländer auf die Möglichkeit eines “nachhaltigen” Wachstumsmodells aufmerksam gemacht.

Der Versuch der G8, eine akzeptierte ethisch-politische Führung auf globaler Ebene zu erreichen, betrifft aber nicht nur die Schwellenländer, sondern auch subalterne zivilgesellschaftliche Akteure. Gegenüber diesen machen die G8 deutlich, dass die Globalisierung “gestaltet” wird und dass die Probleme ernst genommen werden. Sie legen zugleich fest, was relevant, anerkannt, legitim ist und im Rahmen des Diskutierbaren liegt. Dabei ergibt sich ein Panorama unterschiedlicher Kräfte, die durch symbolische Anrufungen – vor allem das Aufgreifen politischer Protestthemen und Schlagworte wie “Nachhaltigkeit” – und ihre “konstruktive Diskussion” auf dem Gipfel sowie materielle Kompromisse wie Entschuldungsabkommen in den “Konsens der G8” eingebunden werden. Das Spektrum subalterner Akteure reicht von linken Parteien und sozialen Bewegungen bis zu NGOs. Im Vergleich zur Entschuldungsinitiative in Gleneagles scheiterten diese Einbindungsversuche jedoch in Heiligendamm weitgehend: Denn die klassischen Bewegungsthemen Umweltschutz und Afrika waren zwar Bestandteil der Gipfelagenda, aber die Ergebnisse blieben so dürftig, dass eine spontane Zustimmung von Teilen der Protestbewegung nicht erreicht werden konnte.

Radikale Staatskritik bleibt notwendig

Den G8 wird meist eine fehlende Legitimität zugesprochen, vor allem weil es sich der demokratischen Partizipation aller Staaten auf der Welt entzieht. Dieses Argument ist nicht nur formal problematisch, sondern auch strategisch gefährlich. Da die G8 als informeller Club keine allgemein verbindlichen Entscheidungen treffen, geht der Vorwurf der mangelnden Partizipation aus demokratischer Perspektive ins Leere. Außerdem ist mit der Diskussion um eine G20 ein Reformprojekt bereits angelegt, das es einem erweiterten Kreis führender Staaten ermöglichen soll, breite Zustimmung, nicht nur bei Entwicklungsländern, zu organisieren, sondern auch bei zivilgesellschaftlichen Kräften wie z.B. NGOs. Der Frage nach der fehlenden Legitimität der G8 kann vor diesem Hintergrund nur mit einer Flucht nach vorne in eine radikale Staatskritik begegnet werden. Denn nicht allein die G8 als informelles Staatentreffen sind illegitim, sondern die Nationalstaaten selber, weil sie eine ökonomische Logik absichern, die das Lebensinteresse der Menschen systematisch untergräbt, und gleichzeitig rassistische und asymmetrische Geschlechterverhältnisse herstellen. Wer aktuelle Herrschaftsverhältnisse kritisieren will, kommt um eine fundamentale Staatskritik nicht herum.

Lars Bretthauer/Ingo Stützle

Dieser Text entstand im Rahmen des von reflect! und BUKO durchgeführten Seminars “The state that we are in. Die G8 mit Poulantzas verstehen”. Wir bedanken uns bei allen TeilnehmerInnen für die anregenden Diskussionen.

Erschienen in: ak – zeitung für linke debatte und praxis, Nr. 518 v. 22.6.2007