Die Marx-Bubble. Vom Medienhype des Longsellers in Zeiten der Finanzkrise

»›Das Kapital‹ geht weg wie warme Weggli«, titelte am 14. Oktober 2008 der Schweizer Blick. Mit dieser Meldung brachte das Blatt eine Story, die in den letzten Wochen durch alle Medien geisterte: Der Verkauf des ersten Bands des »Kapital« hat sich nach Angaben des Berliner Karl Dietz Verlags, der unter anderem die Marx-Engels-Werke vertreibt, seit dem Jahr 2005 verdreifacht. Seither ist Verlagsleiter Jörn Schütrumpf ein gefragter Interviewpartner. Immer wieder muss er die gleichen Journalistenfragen beantworten, vor allem: Was sind das für Leute, die das Kapital lesen? Warum tun sie das? »Det ist die Krise«, erklärt der Verlagsleiter lakonisch.

Von der Zeit über die Welt, die Saarbrücker Zeitung bis zu TV-Berlin griffen alle bürgerlichen Medien das Thema auf: Marx ist wieder da. Schuld ist die Finanzkrise. Auch die Münchner Abendzeitung titelte: »Wegen der Finanzkrise kaufen immer mehr Menschen das Ur-Werk ›Das Kapital‹.« Die These schaffte es schließlich über den Teich. Associated Press schrieb, dass die Deutschen in der Finanzkrise »Trost bei Marx suchen«.

Dass Marx es sogar in die Yellow Press schafft, ist bemerkenswert. Der Grund liegt allerdings weniger darin, dass sich die Leute in der aktuellen Finanzkrise von Marx trösten lassen wollen. Denn die Marx-Renaissance begann schon weit früher. Vorsichtig geschätzt machen sich seit Ende der 1990er Jahre zunehmend mehr – vor allem jüngere Leute – daran, »Das Kapital« zu studieren. Entweder selbstorganisiert in kleinen Gruppen oder bei diversen Bildungseinrichtungen.

Gegenwärtig startet der Hochschulverband der Linkspartei, Die Linke.SDS, eine bundesweite Kapitallesebewegung an den Universitäten. Die Vorbereitungen dazu haben weit vor der Finanzkrise begonnen. Ebenso weiß der Buchmarkt schon länger von Verkaufserfolgen mit Marx-Literatur zu berichten. Sowohl Einführungen in die Kritik der Politischen Ökonomie von Marx als auch diverse Biografien sind in den letzten Jahren neu erschienen und können teilweise enorme Auflagensteigerungen verbuchen. Der aktuelle Hype um »Das Kapital« ist zwar durch die Finanzkrise stärker geworden, wurde aber nicht erst dadurch geweckt.

Die Finanzkrise und das “blaue Wunder”

Letztlich erzählt uns die Marx-Bubble mehr über die Medien und die Krise als über Marx und seine Theorie. Bereits im Sommerloch dieses Jahres, am 23. Juni, brachte die Süddeutsche Zeitung eine längere Reportage über Dietz Berlin. Der Titel: “Auferstanden aus dem Ruin.” Die Unterzeile lautete: »Bleischwer lag ›Das Kapital‹ im Lager, doch plötzlich verlangt der Markt nach Karl Marx.« Von Börsencrash und Finanzkrise war hier noch nicht die Rede.

Ebenso wenig in der Sonntag aktuell, die die Story wie viele andere Zeitungen auch aufgriff und am 24. August 2008 mit der Schlagzeile »Das blaue Wunder« brachte. Als Grund wurde zu jener Zeit eher eine neue Sinnsuche und aufkommende Unzufriedenheit in der breiten Bevölkerung angegeben. So schreibt die Sonntag aktuell: »Laut Umfrage meinen 75 Prozent der Bundesbürger, dass es in Deutschland nicht gerecht zugehe.«

Bei der Frankfurter Buchmesse im Oktober schließlich war die Finanzkrise ausgebrochen und der kleine Stand des Karl Dietz Verlags belagert von JournalistInnen. Von da an war dem Kapital-Hype Bahn gebrochen. Er hält bis heute an. Nun ist es das eine, dass JournalistInnen im alltäglichen Mediengeschäft stets auf der Suche nach neuen Storys gern auch mal Geschichten von der Konkurrenz abkupfern. Das andere aber ist die Frage, wann eine kleine dpa-Meldung, die von der Auflagensteigerung eines dicken, blauen Buches berichtet, im Nachrichtenticker der Zeitungen, der Fernseh- und Radiosender nicht untergeht, sondern von allen zeitgleich aufgegriffen wird. Noch im Sommer wäre diese Meldung wahrscheinlich verloren gegangen, die allgemeine Verunsicherung der Menschen angesichts der Verwerfungen der kapitalistischen Globalisierung allein wäre kein ausreichender Grund gewesen. Die Finanzkrise ist es. Warum?

Sowohl die Ton angebende ökonomische Zunft als auch die Medien stehen ratlos vor dem Desaster. Kein Wunder: Gerade noch hatte sich die Marktgläubigkeit auf allen Kanälen durchgesetzt, da bricht die »größte Finanzkrise der letzten Jahrzehnte« (Steinbrück) aus. Die Alltagsreligion des freien Marktes erleidet Schiffbruch. Norbert Röttgen, laut Financial Times Deutschland Merkels künftiger wirtschaftspolitischer Vordenker, kündigt an: »Die Krise zeigt: Liberale Marktgläubigkeit ist passé.« Selbst der Marktschreier des Neoliberalismus Nummer eins – Hans-Werner Sinn -, der wie kein anderer vom Mechanismus des Marktes und dessen freiem Wirken überzeugt ist, muss zugeben: Die Krise ist Ausdruck eines »anonymen Systemfehlers«.

So miserabel begründet der Glaube an den freien Markt immer schon war, so dünn sind die jetzt kursierenden Erklärungen für die Krise. Der beliebteste Topos ist die Managerschelte. Die unstillbare Gier der InvestmentbankerInnen und SpekulantInnen sollen den Schaden angerichtet haben. Der nächste Sündenbock ist die Politik. Erst das “Laissez Faire”, die mangelnde staatliche Kontrolle, habe zur Entfesselung der Märkte geführt. Letzteres verdeckt, dass die Deregulierung von Finanzmärkten immer auch eine Regulierung ist.

Entgegen einer weitverbreiteten Annahme war der Staat niemals abwesend oder gar geschwächt. Im Gegenteil: Er hat die Märkte mit seiner ganzen ihm zur Verfügung stehenden Macht erst so gemacht, wie sie jetzt sind. Die Frage, die jetzt niemand stellt, ist: warum eigentlich? Ebenso wenig erklärt die These von den gierigen ManagerInnen, warum ausgerechnet deren “Gier” so massive Folgen hat, während die »Gier« der kleinen Leute nach mehr Geld häufig entweder im Nichts oder vor dem Gericht endet.

Der Hype um Marx ist ganz offensichtlich Ausdruck eines Erklärungsnotstands. Und nicht nur das: Die Finanzkrise hat zu einer Legitimationskrise des Kapitalismus, nicht mehr nur des Neoliberalismus geführt. »Ist der Kapitalismus noch zu retten?« fragt die konservative Welt und stellt damit wie so viele in letzter Zeit die K-Frage. So grundsätzlich wollten es in den letzten Jahren nicht mal mehr die Linken beim Namen genannt wissen.

Mit dem gegenwärtigen Wirbel um Karl Marx gerät aber auch die ganze Ahnungslosigkeit ans Tageslicht. »Sozialismus in Raten« titelt Focus Money angesichts der Verstaatlichungen von Banken in den USA und zitiert einen republikanischen Senator mit den Worten: »Dieser Rettungsplan ist keine Lösung, sondern finanzieller Sozialismus und unamerikanisch.« Auch die Hamburger Morgenpost fragt besorgt: »Folgt auf die ungebremste Herrschaft des Marktes jetzt der ›Sozialismus 2.0‹ ?« Nach einem weit verbreiteten Verständnis ist man da nicht weit entfernt von dem, was das Werk von Marx angeblich ausmacht. So wird munter kolportiert, man finde bei Marx den Entwurf für eine sozialistische oder kommunistische Gesellschaft. Die taz kürt Karl Marx in einer Reportage über die gegenwärtige Kapitallesebewegung denn auch gleich zum »Erfinder des Sozialismus«.

Marx-Wirbel: Ausdruck eines akuten Erklärungsnotstands

Doch nicht nur die sogenannten Verstaatlichungen scheinen die Medien dazu zu bewegen, Marx aus der Mottenkiste zu holen. Auch die Angst vor einem Zusammenbruch des Kapitalismus, dem Peter Licht mit dem Refrain »vorbei, vorbei, endlich vorbei« entspannt entgegen singt, lässt viele Medien das mutmaßen, was auch Bundesfinanzminister Peer Steinbrück in einem viel zitierten Spiegel-Interview äußerte, nämlich »dass gewisse Teile der marxistischen Theorie doch nicht so verkehrt sind«. Denn: »Ein maßloser Kapitalismus, wie wir ihn hier erlebt haben mit all seiner Gier, frisst sich am Ende selbst auf.« Doch weder findet man bei Marx eine Anleitung zum Sozialismus, noch die These, dass der Kapitalismus sich selbst auffressen würde.

Wer auch nur den Untertitel von »Das Kapital« zur Kenntnis nimmt, erfährt, dass es darin um »Die Kritik der Politischen Ökonomie« geht. »Politische Ökonomie« war zu Marx Lebenszeit die Bezeichnung für das, was wir heute als »Volkswirtschaftslehre« kennen. Marx’ Kritik war eine Auseinandersetzung mit den analytischen Kategorien dieser Disziplin und dadurch zugleich mit dem System, das sie versucht zu begreifen: der kapitalistischen Produktionsweise.

Dabei analysiert er zuvörderst die Regeln des Spiels, nicht das Verhalten einzelner SpielerInnen. Und in diesem Spiel stehen die Konkurrenz aller gegen alle, die profitable Produktion und der erfolgreiche Absatz von Waren sowie das individualistische Erfolgsprinzip ganz oben in der Anleitung. Eine Anleitung, die die Menschen nicht bewusst geschrieben haben, aber durch ihr zwangsläufig »gieriges« und »egoistisches« Verhalten tagtäglich von Neuem bestätigen.

Spielregelerklärer wird zum »Erfinder des Sozialismus«

Marx hätte daher keineswegs die »Gier« von ManagerInnen, SpekulantInnen oder InvestmentbankerInnen abgestritten. Ihm zufolge liegt der Grund dieser Gier aber nicht in einer schlechten Erziehung. Vielmehr gehört es zum Charakter des Kreditsystems, dass es sich zum »kolossalsten Spiel- und Schwindelsystem« (MEW 25: 457) entwickelt. Profitmaximierung ist erwünscht im Kapitalismus. »Gierig« werden die Akteure nur im Nachhinein bezeichnet, wenn die Maximierung gescheitert ist. Hatte sie Erfolg, war der Manager clever.

Marx nun wirft der bürgerlichen Ökonomie vor allem die »Naturalisierung« dieser ökonomischen Beziehungen vor. Die gesellschaftlichen Formen, in denen Arbeit im Kapitalismus organisiert wird, sind jedoch historisch-spezifisch. Arbeitsteilung im Kapitalismus ist über Warentausch vermittelt, Arbeit und die Produkte der Arbeit treten in der Form der Ware, des Geldes und des Kapitals auf. Unter anderen Bedingungen gesellschaftlicher Produktion können diese Formen wieder verschwinden. Wie genau diese Produktionsweisen jedoch aussehen könnten, dazu erfahren wir bei Marx wenig.

Worüber wir allerdings sehr viel bei Marx erfahren, ist – hurra, hurra – die Krise. Nur führt sie nicht zum Zusammenbruch des Systems. Zwar ging Marx eine gewisse Zeit durchaus davon aus, dass der Kapitalismus in so etwas wie einer finalen Krise sein Ende finden würde. Auch, dass diese den Umsturz durch die Massen beschleunigen helfen könne. Indes: In seinem derzeit viel zitierten Hauptwerk »Das Kapital« ist Marx längst klar: Krise ist im Kapitalismus keineswegs etwas der Wirtschaft Äußerliches, ein quasi unvorhergesehener Betriebsunfall. Die Widersprüche, die sich in den Krisen entladen, beginnen nicht erst in den spekulativen Momenten von Kredit oder den berühmt-berüchtigt gewordenen »innovativen Finanzprodukten«, die unter bestimmten Umständen nicht mehr bedient werden können und dann ganze Zahlungsketten zum Zerreißen bringen.

Bereits der Warentausch – das Auseinandertreten von Kauf und Verkauf – ist spekulativ. Der Produzent kann sich nie sicher sein, sondern immer nur darauf hoffen, dass sich die von ihm hergestellte Ware auf dem Markt wirklich verkauft. Der Kredit schließlich erlaubt »die Akte des Kaufens und Verkaufens länger auseinanderzuhalten und dient daher der Spekulation als Basis«. (MEW 25: 452) Kurzum: Das Krisenpotenzial ist der kapitalistischen Produktionsweise zu eigen und lässt sich nicht wegregulieren. Die Krise selbst ist eine Art Neustart des Systems – ein Refresh – keineswegs jedoch das Aufblitzen von dessen Ende.

Ähnlich ahnungslos ist die Journaille in Sachen Verstaatlichung: Der real existierende Sozialismus berief sich auf Marx. In allen diesen Ländern spielte der Staat nicht nur als Eigentümer an Produktionsmitteln und Banken eine wesentliche Rolle, sondern auch als Planungsinstanz. Ergo – so denkt sich das im Alltagsverstand – muss Marx für einen starken Staat und eine umfassende Verstaatlichung gewesen sein. Pustekuchen.

Zwar hat Marx es nicht mehr geschafft, eine Analyse des Staates zu schreiben, dennoch lässt sich der Lektüre des »Kapitals« entnehmen, dass der bürgerliche Staat genau jene Bedingungen sichert, unter denen die Akkumulation von Kapital überhaupt erst stattfinden kann. Zum Maßnahmenrepertoire kann dann auch der großzügige finanzielle Rettungsschirm gehören. Das Ziel dabei ist die Rettung der Finanzmärkte, damit der Laden weiterläuft. Das ist alles andere als »Sozialismus 2.0«.

Die Kluft zwischen dem, wofür Marx in der gegenwärtigen Krise herhalten muss und dem, wofür er tatsächlich steht, ist groß. Sie erklärt, warum die Marx-Bubble platzen wird, sobald die Maschine wieder hochgefahren ist. Es sei denn, die Leute beginnen, Marx zu lesen, statt bloß über ihn zu reden.

Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

Erschienen in: ak – zeitung für linke debatte und praxis, Nr. 533 vom 21.11.2008