Eine Torte für Keynes. Keynes’ 125. Geburtstag und wie der Ökonom in der LINKEN (nicht) diskutiert wird

Anfang 1935 schrieb John M. Keynes an den Schriftsteller George B. Shaw, dass er gerade an einem Buch über eine ökonomische Theorie sitze, die vielleicht nicht sofort, aber doch in den kommenden Jahrzehnten die Art und Weise, in welcher über ökonomische Probleme gedacht wird, revolutionieren werde. Er sollte Recht behalten. Wahrscheinlich ist es zu voreilig, gegenwärtig von einer Krise der Neoklassik zu sprechen. Aber von einer Legitimationskrise des Neoliberalismus, in den zentrale Vorstellungen der Neoklassik eingeschrieben sind, ist allemal auszugehen.

Nicht nur nach der Forderung einiger IWF-Ökonomen nach einer aktiveren Finanzpolitik fiel der Name Keynes immer häufiger. Als Antwort auf die vom US-amerikanischen Häusermarkt ausgehende Finanzkrise legte der Bundestagsabgeordnete Axel Troost zusammen mit Philipp Hersel ein Papier vor, das neben der Tobinsteuer und weiteren Regulierungsmaßnahmen Keynes’ Vorschlag einer Internationalen Clearing Union (ICU) aufgreift. (1) Dabei vertrauen sie auch auf die Autorität Keynes’: Er hätte als “gedanklicher Vater ein hohes Maß an ökonomischen Vorschuss-Lorbeeren. Kaum jemand wird sich trauen, die Idee kurzerhand als Hirngespinst ökonomischer Spinner vom Tisch zu wischen.”

Auch als Anfang des Jahres die US-Administration ein Konjunkturpaket auf den Weg bringen wollte, waren die Thesen des britischen Ökonomen Thema. Ebenso in Deutschland. Anfang April sorgte die Linkspartei nicht nur für internen Wirbel, als über einen Antrag für den Parteitag zum Teil heftig gestritten wurde. Dieser sah Investitionen über 50 Mrd. Euro vor. Das Programm soll u.a. die Beschäftigung erhöhen. Ein Ziel, dem auch Keynes wissenschaftlich verpflichtet war.

Marx im Herz und Keynes im Kopf

Die keynessche Theorie ist, von der marxschen Ökonomiekritik einmal abgesehen, wohl der radikalste Bruch mit den theoretischen Grundlagen der (Neo-)Klassik. Dies lässt sich an zwei Punkten festmachen: Einmal an der Nicht-Neutralität des Geldes und zum anderen an der Hierarchie der Märkte. Sowohl in der Klassik (Smith, Ricardo) als auch in der Neoklassik spielt Geld keine konstitutive Rolle für die Produktion und die Warenzirkulation. Beide gehen im Prinzip von einem geldlosen Gütertausch aus, der nach dem sayschen Gesetz funktioniert, d.h. der Vorstellung, dass sich ein Angebot seine Nachfrage schafft und der Markt somit immer geräumt ist. Geld sei langfristig neutral, und mit einer Veränderung der Geldmenge verschiebe sich nur das allgemeine Preisniveau.

Keynes kritisierte diese theoretische Konstruktion grundlegend. Geld ist nach ihm nicht einfach eine Recheneinheit, sondern in einer Geldwirtschaft (so nennt er den Kapitalismus) ein notwendiges Moment, das Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft. Geld wird nicht nur mit dem Motiv gehalten, ökonomische Transaktion vollziehen zu können, sondern auch aus Vorsichtszwecken vor einer unsicheren Zukunft. Je unabsehbarer die zukünftige Entwicklung erscheint, desto eher und mehr Geld wird gehalten. Neben diesen beiden Geldhaltungsmotiven führt Keynes jedoch auch die Spekulation an. Unerwartete Entwicklungen können nämlich auch überdurchschnittlichen Gewinn ermöglichen – dafür braucht man kurzfristig mobilisierbares Geld.

Geld ist somit der Produktion und dem Tausch nicht äußerlich, sondern nach Keynes wesentlich durch diese vermittelt und zugleich die zentrale Form, in der die ökonomische Unsicherheit verarbeitet werden kann. Daran schließt zugleich die Idee der Hierarchie der Märkte an. Ist das Geld derart zentral, dann ist der Vermögensmarkt, auf welchem das Geld verliehen und gehandelt wird, für den ökonomischen Prozess wichtiger als andere Märkte. Der auf dem Vermögensmarkt hergestellte Preis des Geldes, der Zins, setzt die Kosten für einen Kapitalisten fest, Geld für die Produktion zu leihen. Diese Kosten stellen zugleich die Höhe an Profit dar, den der Kapitalist mindestens erwirtschaften muss, da er die Zinsen bezahlen muss. Damit restringiert Keynes zufolge der Zins den Umfang an Investitionen, die wiederum den Güter- und Arbeitsmarkt bestimmen.

Im Gegensatz zur Neoklassik denkt Keynes Märkte nicht als gleichberechtigt. Sie tendieren auch nicht als effiziente und rationale Instanzen zu einem gleichzeitigen Gleichgewicht, das eine Allokation knapper Ressourcen garantiert. Vielmehr geht Keynes davon aus, dass aufgrund der monetären Restriktion die Produktionskapazitäten nicht ausgelastet werden und damit (unfreiwillige) Arbeitslosigkeit herrscht. Deshalb müsse es darum gehen, die Produktion durch billiges Geld und staatliche Investitionen anzukurbeln. Perspektivisch sprach er von einer “Sozialisation der Investitionen” und vom “sanften Tod des Rentiers”, d.h. dem Ende der Möglichkeit von hohen Zinseinnahmen. Es sei nicht hinnehmbar, so Keynes, dass Kapitalisten den “Knappheitswert des Kapitals” zu ihren Gunsten ausnutzen könnten. Keynes Frage und Teile seiner Antworten sind auch der Grund, warum die keynessche Theorie quasi die Software der (linken) Sozialdemokratie geworden ist.

Für Keynes ist der Lohn nicht allein Kostenfaktor, sondern auch ein Moment der gesellschaftlichen Gesamtnachfrage. Keynes’ Theorie gibt deshalb dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit eine Form, sich zu bewegen. Die Lohnabhängigen können nach Keynes ihre Lebensqualität verbessern, ohne dass ihre Interessen, z.B. höhere Löhne oder der Ausbau öffentlicher Dienstleitungen, in einen Widerspruch zum Profitstreben des Kapitals geraten. Das bedeutet zugleich, dass eine linke Wirtschaftspolitik für sich in Anspruch nehmen kann, nicht nur die partikularen Interessen der Arbeiterklasse, sondern das Allgemeinwohl zu verfolgen – mit makroökonomischem Verstand. Damit entsteht jedoch zugleich ein neuer Widerspruch: Alle, die ihre Interessen dieser gesamtökonomischen Verantwortung nicht unterordnen wollen, werden zu einem Störfaktor.

Die durch den Staat vermittelte Interessengemeinschaft zwischen Kapital und Arbeit wurde von links nur zu gern kritisiert. Dass Keynes bekennender Bourgeois und Antikommunist war, wurde jedoch oft zum Anlass genommen, eine theoretische Auseinandersetzung zu meiden.

Wie kann Sozialismus gegenfinanziert werden?

Bisher fehlt eine ernsthafte und systematische Auseinandersetzung mit Keynes aus einer Perspektive der marxschen Ökonomiekritik. Das ist mehr als verwunderlich; schließlich setzte Keynes da an, wo Marx aufgehört hatte – bei der Analyse des kapitalistischen Gesamtprozesses. Keynes wurde bisher nicht in dem Sinne kritisiert, wie Marx die ökonomische Klassik diskutiert. Weder werden die immanenten Inkonsistenzen seiner Theorie aufgezeigt, noch werden seine Prämissen kritisiert. Marx zeigte anhand der ökonomischen Klassik, warum die gesellschaftliche Arbeit die Formen Ware, Geld und Kapital annehmen muss und warum die Ökonomietheorie diese als scheinbar natürliche und überhistorische Kategorien einfach aufgreift. Ähnliches müsste für Keynes’ Prämissen gezeigt werden – z.B. für seinen Begriff der Unsicherheit, den er weder richtig begründen kann noch eindeutig als Spezifikum der kapitalistischen Produktionsweise ausweist.

Stattdessen werden leider nur Banalitäten konstatiert oder falsche Behauptungen aufgestellt, wie etwa, Keynes kenne keine Klassen. Zudem wird Keynes meist sehr verkürzt rezipiert, da viele seiner erhellenden Analysen erst posthum in den “Collected Works” ab Anfang der 1970er Jahre erschienen, d.h. zu einem Zeitpunkt, als er bereits an Reputation verloren hatte.

An Keynes anknüpfende wirtschaftspolitische Konzeptionen werden in der Linkspartei von zwei Seiten kritisiert. Einmal von GenossInnen in Amt und Würden, die wissen, dass eine Partei nicht nur etwas wollen kann, sondern auch wissen muss, wie es zu finanzieren ist. Zum anderen kommt Kritik von links. Keynes wolle den Kapitalismus nur besser verwalten. Letztere KritikerInnen führen in einem breiteren, sympathisierenden linken Umfeld durchaus offene und kritische Diskussionen. Allerdings ist diese Debatte immer noch recht eng oder findet – aus institutionellen Gründen, die die KritikerInnen eigentlich reflektieren müssten – keinen Zugang in eine breitere Debatte innerhalb der Linkspartei.

Bisher fand weder eine kritische Aufarbeitung der keynesianischen Politik der 1970er Jahre statt noch eine Diskussion der neuen weltwirtschaftlichen und europäischen Bedingungen einer an Keynes ausgerichteten Wirtschaftspolitik. Deshalb werden weder die Grenzen einer solchen Politik benannt noch die politischen Gefahren für die gesamte Linke, die mit einer keynesianischen Politik einhergehenden Fixierung auf den Staat einhergehen würden. Dazu gehört z.B., dass Interessenpolitik zum Störfaktor keynesianischer Politik werden kann oder dass eine Politik der öffentlichen Güter meist nur als Verstaatlichung gedacht wird.

Dass kritische Fragen auf eine Spielwiese verbannt werden, wo sie den parlamentarischen Arbeitsfluss nicht stören, ist verständlich. Schließlich wäre es für eine parlamentarische Partei verheerend, wenn sie für eine Wirtschaftspolitik wirbt, deren begrenzte Wirkung und eingeschränkte Handlungsmöglichkeit sozusagen im Wahlkampf gleich mitgeliefert wird. In der parteiinternen Auseinandersetzung löst sich das Problem der Möglichkeit linker Wirtschaftspolitik deshalb recht schnell in eine Frage der Hegemonie auf.

Keynes-Ritter aus dem ver.di-Wipo-Land

Allerdings ist das Verständnis von Hegemonie bei genauerem Hinsehen nicht mehr als die Hoffnung auf eine parlamentarische Mehrheit, die dann endlich Gestaltungsmacht hat. Diese Mehrheiten bekommt eine Linkspartei jedoch nur dann, wenn sie überzeugende Vorschläge hat. Deshalb nimmt selbst Katja Kipping, die sonst eher für den bewegungsorientierten Flügel steht und für ein bedingungsloses Grundeinkommen eintritt, den bundesdeutschen WählerInnen die Angst vor einem sozialistischen Chaos: Die Linke habe für das auf dem Parteitag beschlossene Investitionsprogramm konkrete Finanzierungsvorschläge, etwa die Einführung einer Börsenumsatzsteuer. “Die gibt es beispielsweise auch in Großbritannien, ohne dass dort gleich der Sozialismus ausgebrochen wäre”, beruhigt die Partei-Vizechefin.

Projekte beschließen, die den Weg Richtung Sozialismus ebenen sollen, und gleichzeitig beschwichtigen, dass dieser mit diesen Maßnahmen nicht droht, ist politisch genauso wenig überzeugend, wie mit wirtschaftspolitischen Vorschlägen Wahlkampf zu machen, bei denen Gefahren und Nebenwirkungen gleich mitbetont werden. Die Linkspartei befindet sich programmatisch in einem Dilemma, und die einzige Möglichkeit, sich daraus zu befreien, ist nicht gewollt – eine grundsätzliche und offene Debatte mit einem hohen Maß an Selbstkritik. Das zeigte zuletzt der Parteitag.

Vor allem ostdeutsche PolitikerInnen warnten davor, dass das geplante Investitionsprogramm nicht finanzierbar sei. Dem wurde – vor allem von den Keynes-Rittern aus dem ver.di-Wipo-Land, d.h. der wirtschaftspolitischen Abteilung von ver.di – entgegengehalten, gerade diese Form der Umverteilung und Wirtschaftspolitik ermögliche, Vollbeschäftigung und einen demokratischen Sozialismus zu realisieren. Man müsse eben für deren Hegemonie kämpfen. Die Auseinandersetzung zwischen beiden Gruppen wurde während des Parteitages nicht geführt. Die Eckpunkte des Programms wurden kurzerhand in den Leitantrag des Parteivorstandes aufgenommen, der en bloc abgestimmt wurde. Eine effektive Möglichkeit, grundlegende Diskussion erst gar nicht entstehen zu lassen.

Eine Diskussion, wie es wirtschaftspolitisch weitergehen soll, ist somit auf einen politischen Raum verwiesen, der – um mit Marcuse zu sprechen – durch repressive Toleranz geprägt ist. Über die Grenzen keynesianischer Politik und darüber, was Marx als Ökonomiekritiker zu einer aktuellen Kapitalismuskritik beizutragen hat, wird nur dort diskutiert, wo weder über Gegenfinanzierung noch über Wahlkampfstrategien nachgedacht werden muss. Das ist nicht sonderlich verwunderlich oder empörend. Eine Partei, die ins Parlament will, mitgestalten und regierungsfähige Mehrheiten bekommen möchte, muss sich bestimmten institutionellen Zwängen unterwerfen. Schade ist nur, dass sich die linken KritikerInnen dieser Logik meist freiwillig unterwerfen und sich in ihrem Sandkasten bereits eingerichtet haben. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum Keynes’ Geburtstag im Handelsblatt, der Financial Times Deutschland sowie der FAZ und der Frankfurter Rundschau “gefeiert wurde”, im Neuen Deutschland jedoch nur für eine Kritik an der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank herhalten musste und in der jungen welt gar nicht beachtet wurde.

Ingo Stützle

Anmerkung:
1) Nach Keynes unterhalten alle Länder Konten bei der ICU und wickeln über diese den internationalen Zahlungsverkehr in der multilateralen Weltwährung Bancor ab. Das erklärte Ziel war, Ungleichgewichte in Zahlungsbilanzen u.a. durch die Entwertung von Guthaben aufzulösen.

Erschienen in: ak – zeitung für linke debatte und praxis, Nr. 529 v.20.6.2008